Das „abgehängt sein“ ist zum Schlagwort für den ländlichen Raum geworden. Ich habe es immer mal wieder versucht, aber ich konnte das für mich hier nie fühlen. Ich lebe leicht im Ländlichen. Ich genieße die Kraft, die mir Landschaft, Natur, die Weite und die frische Luft geben. Ob es hier nun einen Laden gibt oder nicht, ist mir bislang recht gleichgültig gewesen. Lange Zeit dachte ich auch: Vielleicht sind meine Nachbarn es nicht so gewohnt wie ich, ihr Leben selbst in Hand zu nehmen?
Und dann erreichte uns da letztens eine E-Mail aus der Großstadt: „Vermeintlich abgehängte Regionen“ las ich dort und etwas grollte spürbar in mir. Ich ließ mich tiefer auf das Thema ein und entdeckte eine ganz neue Perspektive: Die geschichtliche.
Als ich vor einigen Jahren in unser kleines Dorf zog, gab es dort ein Altenheim und eine Gastwirtschaft mit Saisonbetrieb. Für mich schien das schon immer so gewesen zu sein. In anderen Dörfern sah es ja nicht anders aus. Als Stadtkind hatte ich einfach keine Ahnung, was Dorfleben bedeutete. Ungefähr so muss es aber mal gewesen sein: Der Dorfbewohner lebte verglichen mit heute im Reichtum, was nicht den materiellen oder kulturellen Reichtum des Einzelnen meint, sondern den strukturellen. Es gab einen oder mehrere Läden, eine Gastwirtschaft, einen Kindergarten, eine Schule mindestens in der Nähe und die Arbeit fand sich genau dort und drumherum auf den Feldern und die meisten Kinder blieben in der Heimat. All das ist weg. Jedenfalls fast alles. Mit den alten Strukturen verschwand auch Arbeit vor Ort, die Leute pendeln heute oder sind Rentner. Nur ein minimaler Prozentsatz arbeitet noch in der Landwirtschaft.
Dass die Menschen selbst zu einem gewissen Maß Teil des Problems sind, weil sie eben gern nur billig in den großen Discountern einkaufen und jeder abends vor seinem eigenen Fernseher mit dem Bier sitzt, ist nicht so leicht zu erkennen. Wie so oft schaffen wir kollektiv, was der Einzelne gar nicht will. Und zu einem Teil ist es auch eine lange Kette des „Müssens“. Auch wenn einer hier ganz arm ist, irgendeine Motorisierung hat er doch und wenn ich die schon habe, dann „muss“ ich auch dorthin fahren, wo ich günstig einkaufen kann, so dass es zum schmalen Beutel passt. Dabei sind die Wenigsten richtig arm: Nachwendegeprägt fühlt sich das aber immernoch so an, auch wenn inzwischen zwei Autos – wenn auch kleinere als „im Westen“ – vor der Tür stehen.
Das Dorfleben hat also mal recht autark und sinnvoll ineinandergreifend funktioniert. Heute stehen die Leute draußen vor einer „EU-Brachfläche“ und schütteln den Kopf, weil es dafür mehr Geld gibt, als für das, was Mutter Erde uns schenken könnte. Oder weil der Wind Gifte vom Feld herübertreibt und ihre Bienen tötet. Die Discounter Produkte liegen trotzdem auf dem Tisch – konsequente Logik ist nicht des Menschen Stärke.
Trotzdem: Sie müssen mit Entscheidungen von Leuten leben, die sehr, sehr weit weg sind und selten mal vorbeikommen, es sei denn, es gibt was zu Kontrollieren.
Hinzu kommen nie enden wollende Gebietsreformen, die Identität und Vertrauen zerrütten. Ob das einer vor Ort will? Egal – es geht ums Geld, das allgemeine Totschlagargument. Dass wir ein reiches Land sind, wird hier nicht spürbar. Viele Gemeinden sind Armenhäuser, die Bürgermeister gehen betteln und schließen sich aus Not zu immer größeren Verwaltungsstrukturen zusammen. Aus Klein Priebus ist Krauschwitz geworden, was 20 Kilometer weiter weg ist, vielleicht sind wir bald Bad Muskau und beides lag mal im Niederschlesischen Oberlausitzkreis und nun im Landkreis Görlitz. Von einem Ende zum anderen fahre ich zwei Stunden. Die Mentalität im Süden hat mit der hier oben wenig gemein. Die Menschen suchen etwas zum Festhalten, der Staat will effizient verwalten. So findet keins zum anderen. Es war mal eine Ehre Gemeinderat zu sein, heute will das niemand mehr. Es gibt ja auch kaum noch was zu entscheiden, wenn Förderprogramme aus den Metropolen bestimmen, was vor Ort noch möglich ist. Demokratische Prozesse erleben und verstehen, Mitbestimmung und Selbstwirksamkeit sind ferne Träume, die keiner mehr träumt. Die Bürgermeister sind müde geworden.
Früher gab‘s einen Bürgermeister im Ort, einige Entscheidungen konnten direkt getroffen werden. Heute sitzt der gefühlt sonstwo und nicht nur der Winterdienst kommt im letzten Gemeinde-Dorf als letztes an.
Und in all dieses Gemenge kommen nun wir mit unserer Landlust, die wir das Abgehängtsein überhaupt nicht erspüren, weil etwas Neues ins Dorf gelangt ist, ohne dass wir als „digital arbeitende Wanderungswillige“ hier nie existieren könnten und das uns mit der ganzen Welt und ihrem Wissen und ihrer Kultur und den Menschen verbindet: Das Internet, auch per Satellitenschüssel falls es noch kein DSL gibt.
Raumpioniere treffen auf eine sie inspirierende Leere: Was es hier alles NICHT gibt! Toll! Da können wir ja selbst was machen! Wir stellen uns das Landleben nämlich so richtig romantisch vor, mit allem, was mal bei den „Kindern von Bullerbü“ dazu gehörte. Mancherorts gibt es deshalb wieder einen Tante-Emma-Laden mit regionalen und/oder Bio-Produkten. Es werden kleine, alternative Schulen gegründet. Es wird gehämmert und gewerkelt und an die unsichtbaren Grenzen gestoßen: Hatten wir doch gerade alles abgeschafft und waren froh, es los zu sein. Was wollen die jetzt?
Neu anfangen wollen sie und sich Räume erobern. Selbst gestalten und Träume verwirklichen.
Kürzlich sprach ich mit einem sächsischen Verwaltungsmitarbeiter, der für die Kreisentwicklung seines Landkreises (nicht des unsrigen) tätig ist. Er erzählte mir, die Städter wollen nur Grundstücke in Außenlagen kaufen und dann natürlich alle Segnungen der Zivilisation beanspruchen, wie zum Beispiel die Müllabfuhr. Solche braucht er nicht. Außerdem verkaufen die Leute vor Ort „keine Elle“, also Grundstücke mehr, weil sie es lieber selbst behalten (zu diesem Thema gerne mal „Haus kaufen Oberlausitz“ googlen). Landlustige Zuzügler sind also kein Thema für ihn. Da ist er wieder der kalte Blick der Effizienz. Für Fachkräftewerbung im Ländlichen bläst der Freistaat allerdings eine Menge Geld in den Äther. Lustig. – Zuhören wollte er mir nicht, er wusste ja schon alles. Und dabei hätte ich ihm so viele Geschichten von Menschen mit Fachausbildungen zu erzählen gehabt, die sich nach einem Leben in einer kleinen Stadt oder auf dem Dorf sehnen, die Häuser wieder schmuck machen wollen und sich einbringen in die neue Gemeinschaft. Zum Glück haben wir die Sache selbst in die Hand genommen. Meldet Euch bei uns! Wir können in den Wüsten des demographischen Niedergangs Oasen des Neuen und des Wachstums schaffen.
Liebe Arielle, schön geschrieben. Wir tun auch was. Jeder auf seine Art. Ich kümmere mich darum, dass die „Kleinen“ Direktvermarkter und Bioleute gesehen werden. Mal ehrlich, wer auf´s Land geht, träumt vom Gemüse aus dem Garten und den Eiern von des Nachbarn Hühnern. Und ja, das ghet hier alles. Wenn man, wie ich, aber zum Gemüseanbauen nicht so recht das Händchen hat, dann hat man den besten Biogemüseanbauer gleich um die Ecke. Muss man nur kennen. Ich baue die Plattform für dieses kennen-lernen auf dem „platten“ Land. Herzlich willkommen und füllt euch das Körbchen! h
Liebe Arielle,
danke für den sensiblen und anregenden Beitrag.
Ich bin bei Deinem „Grollen“ hängengeblieben. Da geht es vielleicht noch um mehr. In unserer neoliberalen Einer-Gegen-Alle-Gesellschaft kann man aus dem Abgehängtsein ein Stück Mitleid heraushören, aber eins, das verächtlich klingt. Die Abgehängten, das sind die Verlierer – die im Osten und die auf dem Land. Und Verlierer sind bei uns selbst schuld, denn in unserer scheinbar so diskriminierungsfreien Gesellschaft hat ja jeder eine faire Chance. Es ist diese Verächtlichkeit, die viele zu der verachteten Partei treibt (die auch nur einer Variante des neoliberalen Ellenbogens frönt).
Um so wichtiger, dass wir a) das Positive des Landleben zeigen und b) unsere konkreten Forderungen zu Gehör bringen.
Wolf Schmidt (www-landblog-mv.de)