Sehen, was zu sehen ist. Fühlen, was zu fühlen ist. Wissen, was unbekannt bleiben muss. Jenseits von der Stadt und auch weit weg vom Dorf wuchs ich als Testvariante der „Typenreihe Kasper Hauser“ auf. Ein riesiges Reich war es immerhin, über das ich gebieten durfte. Als der Enkel der wandelnden Aphorismensammlung Paul Liebscht war ich überall willkommen. Nach dem Krieg hatte er für seine Ausgebombtenfamilie die von Shell aufgegebene Gartenhaussiedlung entdeckt und mit seinem Kumpel – auch ein „Paul“ – als Wohnsiedlung neu begründet.
Während jenseits meiner Lebenswelt bedauernswerte Kinder erpresst wurden, in irgendwelchen „Trivialisierungsanstalten“ (O-Ton Heinz von Förster) ihren Eigensinn gegen die Freuden der Konformität einzutauschen, hatte ich auf meinen Ländereien nie Zeit für Langeweile und künstliche Forcierung von Angepasstheit. In diversen Buden hortete ich die von Erwachsenen erbeuteten Werkzeuge plus Waffen und hatte angesichts meiner Experimente bzw. Schandtaten Glück, dass mein Großvater informell einen Teil des Waldes vom Förster zur Pflege anvertraut bekommen hatte. Die echte Pistole, die ich ausgegraben hatte, nahm mir mein leider nicht durchgängig pazifistischer Vater – der als Kind dem Dresdner Feuersturm knapp entronnen ist – wutentbrannt weg. In den Müll warf er auch dieses super Armeemesser mit den tollen, gefährlichen Zacken, das ich von dem für uns zuständigen IM bekommen hatte, der in mir sonderbarem Jungen irgendeine Art Talent gesehen hat.
Die andere Seite: Wenn sich andere Kinder zum Spielen ganz ausnahmsweise hierher verirrten, war das ein quasi extraterrestrisches Event, über das ich hernach Monate ungestört nachdenken konnte. Die Erwartung, dass es doch wunderbar sein müsste, wenn viele Kinder zum miteinander Spielen da wären, sollte sich mit der Schuleinführung nicht bestätigen. Statt des Wunders erlebte ich einen Schock, den voll zu verstehen, mir erst Jahrzehnte später gelang. Die von mir sehnsüchtig erwartete Begegnung mit den theoretisch wunderbar vielen, anderen Kindern enttäuschte nicht nur. Das alltägliche, mit den Konformitätsanforderungen in einer rätselhaften Verbindung stehende Mobbing wurde von mir als distanziertem Beobachter über Jahre als Horror erlebt. Wie tierisch, ja niederträchtig miteinander umgegangen wurde hinter den sozial erwünschten Masken von Artigkeit! So etwas gab es in meiner einsam königlichen Welt bislang nicht. Wie reizlos und stereotyp dieses ewige Hin und Her der Klassenintrigen war! Dass anlässlich anstehender Lösung gemeinschaftlicher Probleme Gruppendynamik nicht unbedingt die intelligenteste Lösung beförderte, gab mir Jahrzehnte vor meiner Berufslaufbahn als Psychologe, Wissenschaftler und Gelegenheitskünstler zu denken. Und wie langweilig angepasst sich ausgerechnet manche der Gemeinsten den Erwachsenen gegenüber präsentierten! Was musste bei denen Zuhause los sein, dass die sich so hässlich verhielten, sobald kein Erwachsener hinsah? Diese wiederum spulten wie Roboter ihre Standardphrasen ab. Bei manchem fragte ich mich, ob dieser vielleicht niemals selbst ein Kind gewesen sein mag? Theoretisch musst er / sie doch auch mal klein gewesen sein? Musste sich daher doch vorstellen können, wie das ist!? Auf dem Nicki meiner Tochter las ich kürzlich einen Satz: „KEEP THE WILD IN YOU“. Mit acht Jahren nahm ich mir fest vor, meinem Leben ein Ende zusetzen, wenn ich feststellen würde, dass ich selbst ein blöder, unsensibler, phantasiebeschränkter „Erwachsener“ geworden wäre und vergessen haben sollte, wie es ist, Kind und als solches auf mehr oder weniger Roboter-artige Erwachsene angewiesen zu sein. Inzwischen weiß ich, dass man sich das nicht vornehmen muss, weil das Leben allmählich wie von selbst aus einem verblödenden Körper entweicht.
Damals lernte ich immerhin nach und nach, etwas besser in den Prügeleien abzuschneiden. Ein bisschen Fiesheit habe ich im Nachhinein betrachtet als Kulturstandard von der für mich zwangsweise überlebensrelevanten „Gemeinschaft“ bzw. Horde übernommen: Nachdem sich mein Aktionsradius vergrößert hatte, lud ich mir (statt der Dorfis) echt freche Rüpelkinder aus Dresden ein, um mit diesen Manöver zu spielen und Zigarren zu rauchen. Wegen einer Zigarre beim Schach im hochsommerlichen Gras brannte mal eine Gruppe Fichten ab – super peinlich für meinen Vater als Mitglied der Feuerwehr, dass ich Übeltäter ihn zum Löscheinsatz im lichterloh brennenden Waldstück vom Sofa hochscheuchen musste! Nicht weniger interessant war, dass die im unvertrauten Wald plötzlich handzahmen Rotzlöffel aus der Stadt bei der siebten, mitunter patschnassen Abenteuerüberquerung der Priesnitz immer noch nicht realisierten, dass es sich um den selben Fluss handelte. „Geh an die Orte, die Du fürchtest!“ Trotzdem oder weil ich als Guide manchmal so ein Fiesling war, kamen die Stadtjungs gerne wieder. Auch als Psychologe heut empfehle ich den Klienten, mir so viel wie möglich zu misstrauen, weil ich – auch um mich nicht zu langweilen – manchmal Verrücktheiten mit noch größeren Verrücktheiten zu lindern suche. Wenn mancher dann noch heute gleichsam beim Balancieren über den Fluss ins Wasser plumpst, scheint das den Rückmeldungen nach aber im Sinne von Farelly heilsam zu wirken. Böhme nennt derlei mentale Erfrischung den „Schrack“. Zu Kaspar-Hauser-Zeiten hüpfte ich manchmal nächtens nackt aus dem Fenster und übte in der Dresdner Heide, maximal lautlos wie ein Urmensch von Baum zu Baum bis zum Schlingspflanzensee zu schleichen – wohl wissend, dass es in meinem Reich mitsamt der drolligen Wildschweine so viel sicherer war als unter den nicht artgerecht gehaltenen, gemütserkrankten Bestien der Stadt. Glück oder Prägung, dass meine vier Kinder teils im Waldkindergarten ähnlich abenteuerreiche Erfahrungen mit natürlicher Diversity und Eigensinn machen durften! Laut Friedrich Engels soll das Klettern der Intelligenzentwicklung der Primaten einen kräftigen Schub gegeben haben. Um so wie einst von einem Baumwipfel zum nächsten „das Eichhörnchen zu machen“, dafür bin ich inzwischen zu ungelenk und fett. Neulich aber, als ich mit meiner Tochter einen (ziemlich leichten) Kletterbaum erkundet habe, war es wieder ein bisschen wie einst.
Die Suche nach der Antwort auf die „Kompassfrage“ hat mich nun drei Jahrzehnte später wieder an einen Ort geführt, der weit jenseits von allem Bekannten ist. Auf den Spuren von da Vinci, Rombach und Beuys bereite ich jenseits von Stadt und Dorf mit ein paar anderen Renaissance-Geistern die Neuerfindung unserer – nach wie vor feudalistisch geprägten – Wissenschaftsorganisation vor, für die sich eine „Gesellschaft jenseits der Ismen“ nach dem gar nicht so smarten Scheitern der beiden großen Gesellschaftsentwürfe in etwa zehn, zwölf Jahren notgedrungen interessieren wird. Ausgerechnet in einer von Pauls Enkel entdeckten Kaserne, inmitten eines einst königlich dimensionierten und als Co-Dorf leicht umfunktionierbaren Militärgeländes analysieren wir, welche Designmerkmale Wissenschaftsorganisationen von Organismen übernehmen müssen, damit dank dieser Einsicht agiler organisierte Menschenaffen vermögen, Reformationsstau zu vermeiden und Frieden zu halten. Die Herausforderung, angesichts der trügerischen Selbstgewissheit schwarmdummer Gemeinschaften und Corporations, rechtzeitig Korrektive zu implementieren, ist also als Thema geblieben. Als Ausgleich zum Herzklopfen vorsichtigen Tastens im Dunkel unausdenklicher Räume rauschen die Bäume hier vor unseren Wissenschaftsateliers beruhigend vertraut … wie die Eichen vor dem Fenster meines im Geschwisterkrieg verlorenen Elternhauses einst. Für den Kauz und die „Fledis“, die von pseudo-ökologischen Trampeltieren vertrieben wurden, ist direkt da drüben ein fabelhaft sangesfreudiger Pirol gekommen. Wird er samt Kind und Kegel bleiben können? Wenn Deine Seele diese Zeilen freundlichen Auges erreicht haben, möchte ich auch Dir diese, zunächst vielleicht ein wenig idiotisch klingende, „Kompassfrage“ ans Herz legen: „Was kann ich tun, das nur ich tun kann?“ Halt Dich gut fest!
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